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  1. Reportage
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Musische Bildung macht Selbstwirksamkeit erlebbar

“Der Mensch braucht das Gefühl, gestalten zu können – für sein Leben, für die Gemeinschaft und für unsere Gesellschaft.“

Herr Zwingmann, stellen Sie sich bitte kurz vor. Was sind Ihre Aufgaben im CJD – und seit wann sind Sie dabei? 

Sehr gerne. Ich bin Kunsttherapeut und Kunstpädagoge. Im CJD bin ich seit 2010 – angefangen habe ich als studentische Hilfskraft während der Diplomarbeit, danach mehrere Jahre als Jugend- und Heimerzieher in stationären Jugendhilfegruppen. Seit 2016 arbeite ich als Kunsttherapeut mit jungen Männern aus dem Autismus-Spektrum in einer Intensivwohngruppe (24 Wochenstunden). Ich biete Einzel- und Gruppensettings an, nehme an Teamsitzungen, Hilfeplangesprächen und Supervisionen teil, berate Kolleginnen und Kollegen in Konfliktsituationen und übernehme Moderationen. 

Wie schaffen Sie es, dass junge Menschen mit Autismus Vertrauen fassen und kreativ werden?

Der Einstieg läuft über Interessen. Viele Autistinnen und Autisten haben ausgeprägte Spezialinteressen. Darüber kommen wir ins Gespräch – und ins Tun. Häufig starten wir mit der Raumgestaltung: Ein Star-Wars-Fan gestaltet mit mir am Rechner ein Plakat; dabei lernt er digitale Bildbearbeitung, erlebt Selbstwirksamkeit und gestaltet sein Umfeld aktiv mit. Dieses Gefühl, ich kann mir hier meinen Ort gestalten, ich kann aber auch darüber hinaus gestalten, baut Hemmungen und Vorbehalte, die gegenüber Kunst ja oft in der Schule, wenn nicht schon vorher, aufgebaut werden „ich kann das ja gar nicht richtig und ich kann nicht zeichnen, ich kann nicht malen, ich bin auch nicht kreativ“, ab. Wenn das Vertrauen in gemeinsames Gestalten da ist, kommen die jungen Menschen mit eigenen Ideen: vom Cosplay-Kostüm für den Japan-Tag über einen selbstgebauten Couchtisch bis zur E-Gitarre im Stil von James Hetfield. Oft ist das funktional – und entgegen vieler Klischees zugleich sehr kreativ. 

Neben der Wohngruppe beteiligen Sie sich beim CJD Dortmund am Aufbau des Kunst- und Kulturzentrums. Worum geht es? 

Die Idee ist ein fester Ort für musische Bildung mit geeigneten Räumen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben jahrelang mit großem Eigenengagement musisch-kreativ gearbeitet, aber oft „nebenher“. Seit November 2024 haben wir nun einen physischen Standort mit Malerei-Atelier, Bildhauer-Atelier und Tonstudio. Außerdem sind hier die Beratungsstelle für Hochbegabung und Hochsensibilität (Heilpraktikerin für Psychotherapie, systemische Familientherapie) sowie die psychologische Beratung des Standorts angesiedelt. Wir haben diesen Ausbau vor allem der Unterstützung der Meininghaus-Stiftung und der Rudolf Chaudoire Stiftung sowie Privatspenden zu verdanken. Ich kümmere mich um die praktische Arbeit vor Ort; Leitung und Mittelakquise liegen bei der Fachbereichsleitung, in Zusammenarbeit mit Fundraising und Unternehmenskommunikation. 

Für wen ist das Zentrum da – und wie organisieren Sie die Angebote? 

Es steht allen Teilnehmenden des CJD Dortmund offen – nicht nur der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, auch dem BBW. Es gibt zielgruppenspezifische Formate und offene Angebote. Ein Beispiel ist die Kooperation mit der Offenen Ganztagsschule in Dortmund-Kley: Eine Gruppe nutzt wöchentlich unsere Ateliers, weil hier die passenden Räume und Materialien vorhanden sind. Wir arbeiten weiterhin am Ausbau; vieles befindet sich noch in der Aufbauphase, unter anderem mit Blick auf Finanzierungsmodelle und die Öffnung für Externe. Aktuell nutzen ungefähr 15 bis 30 Jugendliche pro Woche die musisch-kreativen Gruppen oder Einzelsitzungen – rechnet man Kolleginnen ein, die hier beratend oder begleitend arbeiten, kommen wir auf rund 50 Jugendliche. Tendenz steigend. 

Was bewirkt musische Bildung? 

Sie ermöglicht schnell, barrierearm und sanktionsfrei Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. In Ausbildung oder Wohnen sind Rahmen oft eng – hier gibt es Raum, Fähigkeiten auszuprobieren, zu experimentieren und zügig sicht- oder hörbare Ergebnisse zu erzielen. Wenn junge Menschen erleben: „Ich kann etwas lernen, ich kann meine direkte Umwelt gestalten und das Ergebnis ist gut“, dann stärkt das Mut und Übertrag in andere Lebensbereiche. Diese praktisch erlebte Kompetenz wirkt nachhaltiger als reine Theorie. 

Warum sind musische Bildung und Kunsttherapie heute – im CJD und gesamtgesellschaftlich – so relevant? 

Therapie ist immer auch Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung. Kunsttherapie arbeitet an sichtbaren Ergebnissen (in der Musiktherapie hörbaren) und öffnet damit Zugänge zu Gefühlen und unbewussten Inhalten, die im Gespräch schwerer erreichbar sind. Sie ist anschlussfähig für Menschen mit Sprachbarrieren oder geringer formaler Bildung. Über Bilder, Klang und Gestaltung kann man arbeiten, auch wenn sprachliche Differenzen bestehen. Das macht Kunsttherapie zu einer wichtigen Ergänzung anderer Verfahren. 

Ich bin sicher, dass es an vielen Standorten engagierte Kolleginnen und Kollegen gibt, die längst musisch-kreativ arbeiten. Die Menschen betreiben seit jeher Kunst, Handabdrücke in Höhlen gibt es schon sehr lange, als eine Art von Kommunikation. Die Frage nach: “Wie gestalten wir Gemeinschaft und wie möchten wir Gemeinschaft leben, wie einigen wir uns darauf?” Wenn wir das professionalisieren und sichtbar machen, potenzieren wir die Wirkung – und stärken ein echtes Alleinstellungsmerkmal der CJD-Persönlichkeitsbildung. Kultur kippt in Krisen oft als Erstes hintenüber – aus meiner Sicht zu Unrecht. Kulturarbeit berührt Werte, Kommunikation, Begegnung und gesellschaftliche Teilhabe. Junge Menschen lernen, dass sie Kultur mitgestalten können. Davon profitiert die Gesellschaft – und natürlich das CJD. 

Wo verläuft die Grenze zwischen musischer Bildung und Kunsttherapie? 

Pädagogik baut auf und entfaltet Potenziale; Therapie gleicht Defizite und Erkrankungen aus. In der Praxis sind die Übergänge fließend. In Gruppen achte ich darauf, sensible Themen gegebenenfalls in ein therapeutisches Setting zu überführen. 

Was motiviert Sie persönlich?  

Mich treibt die Überzeugung, dass der Mensch Gestaltung braucht – Schönheit, Wahrnehmung, Übung und das Erleben: „Ich kann etwas bewirken.“ Das habe ich selbst erfahren, auch durch eigene kunsttherapeutische Erfahrungen in der Jugend. Ich habe Menschen in meinem Umfeld gehabt, die mir Kunst nahegebracht haben, die mir Zeichenbücher gegeben haben in Phasen, wo es mir als Kind nicht gut ging, und ich festgestellt habe, dass das mir hilft. Das war etwas, wo ich mich mit mir selbst und der Welt beschäftigen konnte. Diese Grundüberzeugung und diese Erfahrung, dass es mir geholfen hat. Sowie die positive Rückmeldung von den Jugendlichen. Mir macht die Arbeit mit den jungen Leuten wahnsinnigen Spaß.  

Kann auch die Gemeinschaft gefördert werden durch musisch-kreative Angebote?  

Gemeinsames Gestalten erzeugt Begegnung: Man lernt sich kennen, es entstehen Freundschaften. Gleichzeitig üben wir im „dialogischen Arbeiten“, wo die Freiheit des einen endet und die des anderen beginnt – ganz konkret am gemeinsamen Werk. Konflikte bleiben folgenarm und bearbeitbar. So lernen Jugendliche, Bedürfnisse anzumelden, sich zu positionieren und zugleich Grenzen zu respektieren. 

Wie war das mit der Ausstellung im Rahmen des CJD Orchesterkonzerts 2023 und gibt es da dieses Jahr vielleicht auch wieder Bilder zu sehen?  

Das Setting – klassische Musik, literarische Texte, dazu unsere Bilder – war für die Jugendlichen enorm wirkungsvoll. Wir haben monatelang gearbeitet, die Ergebnisse im Foyer der Berliner Philharmonie gezeigt und als Videoinstallation im Konzert eingebunden. Die Resonanz des Publikums war für die jungen Menschen prägend: ernstgenommen werden, Fragen beantworten, als Künstler erlebt werden. Viele zehren bis heute davon. Ein Teil dieser Ausstellung hängt jetzt auch im Kunst- und Kulturzentrum.  

Auch in diesem Jahr werden wir wieder dabei sei und Skulpturen zum Thema „Das bin ich … einfach wunderbar.“  zeigen. Das skulpturale Arbeiten ist für die Jugendlichen nochmal was Neues gewesen. Eine andere Art handwerklicher Arbeit die ihnen viel Spaß gemacht hat.  

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der musischen Bildung im CJD?

Ein festes Forum an möglichst vielen Standorten – oder zumindest ein fester Platz in unseren Überlegungen. Die Richtung stimmt, aber da geht noch mehr. Es geht nicht nur um „Zimmer aufräumen und pünktlich sein“, sondern um Teilhabe und Mitgestaltung. Die Jugendlichen von heute prägen das Deutschland von morgen. Musische Bildung gibt ihnen dafür wichtige Werkzeuge.