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  2. Interview zum Welt-Down-Syndrom-Tag 2024

Wie Michel das Down-Syndrom rockt

Der blonde Lockenkopf liebt Bananen und vegane Dinoschnitzel, flippt bei Songs wie "In My Mind's Desert" und "Kriecht 'ne Schnecke" vor Freude aus, planscht für sein Leben gern im Wasser und hat mehr Chromosomen zu bieten, als andere Kinder. Genau genommen kommt bei Michel das 21. Chromosom in manchen Zellen dreimal vor.

Flo arbeitet im CJD Erfurt als Leitung der Ambulante Dienste, Außenwohngruppen und des Familienunterstützenden Dienstes. Michel besucht den CJD-Kindergarten „Die kleinen Europäer“ und entzückt dort Tag für Tag die Pädagogen und Pädagoginnen.

Michels Geschichte zu erzählen ist den sympathischen Eltern eine Herzensangelegenheit. Auf diese Weise können sie anderen Eltern Mut machen und ihnen zeigen, wie wunderschön das Leben mit einem kleinen Extra-Chromosom im Gepäck sein kann. Was Julia und Flo bis heute alles gemeistert haben und wie der Start in ein turbulentes Familienleben war, erzählen sie hier.

Michel hat Mosaik-Trisomie. Was genau bedeutet das?

Julia: Aus unserer Sicht: Dass Michel genauso viele Überraschungen bereithält, wie jedes andere Kind auf der Welt auch. Aus wissenschaftlicher Sicht: Das 21. Chromosom kommt in manchen Zellen zweimal (wie bei den meisten Menschen auf der Welt) und in manchen Zellen dreimal (wie bei Menschen mit Down-Syndrom) vor.

Wie würdet ihr euren Sohn beschreiben?

Flo: Ich glaub allein mit der Frage könnten wir mehrere Seiten Interview füllen, deswegen versuche ich es mal auf ein paar Schlagworte einzugrenzen: Schleckermaul, musikinteressiert, zuckersüß, schönstes Lachen, (lebens)lustig, sehr dickköpfig, vorsichtig aber neugierig, Lockenkopf, Wasserratte.

Wann und wie habt ihr erfahren, dass Michel ein Extra-Chromosom hat?

Julia: Wir wussten bereits vor der Geburt, dass die Möglichkeit einer (Mosaik)Trisomie 21 besteht. Nach der Geburt wiesen ein paar Äußerlichkeiten darauf hin. Ein Bluttest bestätigte die Mosaik-Trisomie nach ein paar Tagen.

Wie ging es euch mit der Diagnose Down-Syndrom? Was hat euch Kraft gegeben?

Julia: Die Diagnose Down-Syndrom war tatsächlich kein großes Thema für uns. Es waren eher die Umstände durch die Pandemie und Corona-Maßnahmen, die uns die Zeit nach der Geburt erschwerten. Ich musste ein paar Tage länger mit Michel im Krankenhaus bleiben und Flo durfte aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht zu uns auf die Station. Alles war neu – ein Neugeborenes, ich in der Mamarolle, viele medizinische Infos – und ich musste damit in erster Linie allein klarkommen. Das so gemütlich vorgestellte Wochenbett in den eigenen vier Wänden gab es erstmal nicht. In der Klinik piepste oder blinkte regelmäßig irgendein Gerät und man war gleich in Habachtstellung. Ständig waren fremde Personen um mich herum, die mir oft auf übergriffige Weise den „richtigen“ Umgang mit meinem Sohn vorschreiben wollten. Immer wenn Ärzte mit neuen Infos oder Diagnosen ins Zimmer kamen, habe ich diese erstmal allein abfangen und verarbeiten müssen. Danach habe ich Flo angerufen oder mich kurz mit ihm vor dem Eingang getroffen und unter Tränen versucht, ihm alles detailgetreu weiterzugeben. Halt gaben uns auf jeden Fall wir gegenseitig, unsere Freunde und Familie. Auch ein klarer Fahrplan, wie es nun Schritt für Schritt weitergeht, hat uns kurz nach dem Krankenhausaufenthalt sehr geholfen. Wir waren und sind – auch privat – gut vernetzt, sodass wir schnell viele AnsprechpartnerInnen hatten.

Flo: Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, war es für mich am schwersten, dass ich anfangs Michel auf der Frühchenstation nur für eine Stunde täglich besuchen durfte und dann wieder gehen musste. Nach ein paar Tagen kam Michel zusammen mit Julia auf eine andere Station und ich durfte sie nicht mehr besuchen. Es brach mir förmlich das Herz, jeden Abend am Fenster zu stehen, das Helios Klinikum zu sehen und zu wissen, dass meine Frau und mein Sohn dort sind und ich nicht bei ihnen sein kann. Halt gaben mir in dieser Zeit vor allem Freunde und Familie. Es flossen gemeinsam Tränen, man hat zusammen gelacht und sich gegenseitig Mut zugesprochen. Neben all diesen Umständen und weiteren Diagnosen, die Michel noch so mit auf die Welt brachte, war das Down-Syndrom für uns das kleinste Problem.

Wie sind eure Familie und Freunde mit der Situation umgegangen?

Julia: Unsere Familien waren anfangs sehr besorgt, auch um uns als Eltern. Aufgrund von Corona haben sie Michel erst ein paar Monate nach der Geburt kennengelernt und sofort ins Herz geschlossen.

Flo: Unser Freundeskreis hat keinen großen Wirbel gemacht und Michel als Michel und nicht als das Kind mit Down-Syndrom in der Welt begrüßt. Das hat uns auch sehr geholfen. Es gab unserer Ansicht nach keinen anderen Umgang als mit anderen frisch gebackenen Familien auch.

In welchen Situationen seid ihr in Michels erstem Lebensjahr als Paar über euch hinausgewachsen und wann seid ihr an eure Grenzen gekommen?

Flo: Es gab im ersten Jahr mit Michel alle Facetten von Emotionen – wie auch bei allen anderen Familien. Der ganz normale Alltagswahnsinn war aber auch von vielen Physio-, Förder- und Arzttermine begleitet. Nachdem die ersten schwierigen Tage nach der Geburt überstanden waren und es uns als Familie wieder besser ging, kam ein harter Einschnitt. Als Michel circa ein halbes Jahr alt war, wurde eine spezielle Form der Epilepsie, genauer gesagt BNS-Epilepsie, bei ihm diagnostiziert. Infolgedessen standen weitere Arzt- und Krankenhaustermine an.

Julia: Wir als Paar mussten uns noch besser blind verstehen und sind ziemliche Organisationstalente geworden. Wir haben jeden kleinen Mini-Meilenstein zu schätzen gelernt und haben in vielerlei Hinsicht – emotional, medizinisch, physiotherapeutisch, usw. – dazugelernt. Schlechte Tage gab es, genauso wie die guten. Der Balanceakt war und ist immer noch oftmals herausfordernd.

Habt ihr negative Begegnungen/Diskussionen o.ä. aufgrund des Down-Syndroms erfahren müssen?

Flo: Nicht direkt. Wir können natürlich nicht jeden Blick oder jede Aussage deuten, aber grundlegend ableistisches Verhalten ist uns so bewusst noch nicht begegnet.

Wie sieht ein typischer Sonntag bei euch aus?

Julia: Am liebsten ganz gemütlich, lange schlafen (bis 7:30 Uhr wenn möglich), ausgiebig frühstücken, raus und mit unserem Hund eine große Gassirunde gehen, vielleicht Geocachen oder einen Ausflug machen. Ein gemeinsamer Mittagsschlaf rundet das Ganze dann noch ab.

Unterscheidet sich euer Familienalltag von dem anderer Familien?

Julia: Die meisten Tage sind wahrscheinlich genauso unspektakulär, chaotisch oder normal wie in anderen Familien. Die tägliche Routine mit Michel ist sicher umfangreicher und phasenweise häufen sich die Termine, der Papierkram und der organisatorische Aufwand.

Welche Meilensteine von Michel machen euch besonders stolz?

Julia: Nachdem die Epilepsie nach knapp über einem Jahr im Griff war, hat er wieder gelacht und mehr und mehr auf uns reagiert. Das war das Schönste! Von da an kam auch immer deutlicher seine Persönlichkeit zum Vorschein, vom strahlenden Sonnenschein bis zum sturem Dickkopf. Und er konnte uns immer deutlicher zeigen, was er mag… oder eben auch nicht. Aber auch die typischen „großen“ Meilensteine, wie das Herumrollen, Sitzen oder selbstständige Essen haben wir natürlich gefeiert.

Michel besucht den CJD-Kindergarten. Was bedeutet das für euch?

Julia: Michel ist nun knapp 2 Jahre bei den „kleinen Europäern“. Da die Therapieangebote –sowohl extern als auch intern – wöchentlich im Kindergarten stattfinden, bedeutet dies für uns eine große Entlastung im Alltag, sodass wir am Nachmittag auch einfach mal Familie sein können. Bevor Michel in den Kindergarten ging, mussten wir entweder zu den Therapien fahren oder man kam zu uns nach Hause.

Flo: Für diese Möglichkeit sind wir den ErzieherInnen und TherapeutInnen unglaublich dankbar. Generell sind wir sehr glücklich über die Unterstützung seitens Michels Bezugserzieherinnen und über das Konzept des Kindergartens. Für Michel (und uns) hätten wir uns nichts Besseres wünschen können.

Verfolgt ihr Expertenmeinungen, Zeitungsartikel oder die neuesten Forschungen rund um die Mosaik-Trisomie?

Flo: Nein, bezüglich der Mosaik-Trisomie gar nicht mehr. Das haben wir am Anfang intensiv gemacht, um uns einfach mit dem Thema auseinanderzusetzen und entsprechend informiert zu sein.

Julia: Wir haben uns dann eher an "echten" Lebensbeispielen, beispielsweise via Social Media, orientiert und gesehen, wie normal der Alltag mit einem Kind mit Down-Syndrom sein kann. Hinsichtlich Michels weiterer Diagnosen belesen wir uns immer noch mal mehr und mal weniger und sind dahingehend ja sowieso im regelmäßigen Austausch mit seinen ÄrztInnen und TherapeutInnen.

Seid ihr der Meinung, dass Inklusion in Deutschland gut funktioniert? Was bedeutet Inklusion für euch ganz persönlich? Und was wünscht ihr euch für die Zukunft?

Flo: Deutschland ist Weltmeister der Exklusion, was die weiterführenden Institutionen nach dem Kindergarten betrifft. Für uns bedeutet Inklusion die Annahme und Auseinandersetzung mit der Vielfalt des Lebens. Es wäre schön, wenn Diversität in allen Bereichen der Gesellschaft selbstverständlich Einzug hält und jedem Menschen Teilhabe gleichermaßen ermöglicht wird.

Julia: Wir wünschen uns für Michel, dass er später sein Leben so gestalten kann, wie er es sich vorstellt und er nicht in einem starren System leben muss, welches ihm seine Fähigkeiten, Meinungen und Wünsche abspricht.

Was könnt ihr Eltern mit auf den Weg geben, die ein Kind mit Down-Syndrom erwarten?

Flo: Lasst euch nicht verunsichern, von dem, was andere meinen zu wissen und euch erzählen.

Julia: So wie jedes andere Kind wird auch euer Kind euch Liebe, Fröhlichkeit, Spaß, Anstrengung, kurze Nächte, (Freuden)Tränen, Gemütlichkeit, Sorgen, Lernfortschritte, kleine und große Meilensteine bereiten – das ganze Paket ist garantiert. Ihr werdet es bedingungslos lieben und gemeinsam die Welt neu entdecken.

Es gibt auch jede Menge hilfreiche Seiten, die Mut machen:

  • Von-Mutter-zu-Mutter-Heft (lavanja.com und auf Instagram)
  • Instagram-Accounts: notjustdown, dreifach_schoen, toni-with-trisomie, hope_on_the_road und viele, viele mehr

 

Wir danken Julia und Flo für ihre Offenheit und wünschen ihnen weiterhin viele glückliche Momente mit ihrem strahlenden Michel. Möge ihr Leben weiterhin von Überraschungen, Musik und Liebe erfüllt sein.

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Zwei spielende Kinder im CJD Kindergarten

Kindergarten „Die kleinen Europäer“

Gemeinsam mit Michel spielen, lachen und lernen in unserem Kindergarten in Erfurt 135 Kinder im Alter von 0 Jahren bis zum Schuleintritt, mit und ohne Behinderungserfahrung, unterschiedlicher Herkunft und Religion. Wir verstehen uns als Wegbegleiter, die jedem einzelnen Kind zu einem Höchstmaß an Selbstständigkeit und Eigenaktivität verhelfen, seine Freude am Lernen fördern und seine Potenziale stärken.