Intellektuelle Hochbegabung
Intellektuelle Förderung von Hochbegabten
Unser Begabungsbegriff
Ganz allgemein ist unter Hochbegabung eine Veranlagung (Disposition) zu außergewöhnlichen Leistungen zu verstehen.
Ein Mensch kann in ganz unterschiedlichen Bereichen über besondere Begabungen verfügen: im Sport, in der Musik, in den sozialen Fähigkeiten oder auch im intellektuellen Bereich.
Das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands hat sich in seinen verschiedenen Einrichtungen auf unterschiedliche Begabungsbereiche spezialisiert und bietet Förderung im intellektuellen, musischen und psychomotorischen (sportlichen) Bereich an.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Definition einer Hochbegabung im intellektuellen Bereich.
Aus dem Verständnis der Hochbegabung als einer Disposition zu außergewöhnlichen Leistungen ergeben sich verschiedene Aspekte:
1. Unterscheidung zwischen Fähigkeit und Leistung
Seit der Entwicklung von Testverfahren zur Messung der Intelligenz zum Zeitpunkt des vorletzten Jahrhunderts kann und muss zwischen Fähigkeit und Leistung unterschieden werden.Goethe und Gauß wurden als hochbegabt angesehen, weil ihre Leistungen so außergewöhnlich exzellent waren. Und es gibt keinerlei Grund daran zu zweifeln, dass sie hoch begabte Menschen waren. Das Verfahren, Hochbegabung auf Grund von Leistung festzustellen, scheint zunächst nahe liegend.Dennoch zeigt dieses Modell eine Schwäche, der wir gerade im Bereich der Bildung und Erziehung nicht begegnen möchten. Mit Blick auf die Leistung können wir all diejenigen identifizieren, die ihre Begabung in Leistung umsetzen konnten. Aber wir wissen nichts über all jene, die zu solchen Leistungen wie Goethe und Gauß fähig gewesen wären, aber auf Grund anderer Faktoren – mangelnde Förderung, Krankheit, Antriebslosigkeit usw. – dazu nicht kamen. Für jegliche pädagogische Arbeit ist es unabdingbar über die Fähigkeiten informiert zu sein, um dann eine unterstützende Umgebung zu schaffen, damit Kinder und Jugendliche so viel wie möglich ihrer Fähigkeiten mit Freude in gesellschaftliche Leistung umsetzen können.
2. Wissenschaftliche Definition von Hochbegabung
Hochbegabung ist schon im umgangssprachlichen Verständnis gerade nicht die durchschnittliche Begabung, sondern die, die deutlich aus diesem Durchschnitt herausragt. 1920 wurde der so genannte Intelligenzquotient (IQ) von William Stern, einem Hamburger Psychologen und Wissenschaftler, definiert.Mit dem Intelligenzquotienten wird numerisch ausgedrückt, auf welcher Position ein Mensch in der Verteilung der jeweiligen Altersgruppe in Bezug auf die Intelligenz einzuordnen wäre. Grundlage für diese Einordnung ist die so genannte Gaußsche Normalverteilungs- oder Glockenkurve.
Sie zeigt die typische Verteilung, die sich in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Musikalität, Körpergröße oder eben auch Intelligenz vorfindet. Üblicherweise zeigt sich, dass ein Merkmal wie Intelligenz bei den meisten Menschen in mittlerer Stärke ausgeprägt ist und bei wenigen Menschen so gut wie gar nicht oder – am anderen Ende – über die Maßen. Die meisten Menschen befinden sich mit ihrer Merkmalsausprägung im mittleren Bereich der Verteilung. Je weiter die Glockenkurve vom Mittelpunkt entfernt ist, desto weniger Menschen weisen diese Merkmalsausprägung auf. Die Begabung eines Einzelnen kann als Position auf dieser Normalverteilungskurve angegeben werden und mit einem IQ-Wert bzw. dem Prozentrang (PR) angegeben werden (siehe Grafik oben).
Das mittlere Maß der Intelligenz liegt bei einem IQ von 100 (bzw. PR 50). Nach der Multiaxialen Klassifikation der ICD 10 gilt Intelligenz ab einem IQ von 130 (bzw. PR 98) als sehr hoch bzw. weit überdurchschnittlich (intellektuelle Hochbegabung). Man muss dabei berücksichtigen, dass wir es bei der Psyche eines Menschen nicht mit einem exakt bestimmbaren Gegenstand zu tun haben und die Ergebnisse daher nicht mit einer einzelnen Zahl abbildbar sind. Deswegen werden die Ergebnisse oft gemeinsam mit einem Bereich angegeben, in dem der Wert mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit liegt (z.B. mit 95%-iger Wahrscheinlichkeit liegt der Intelligenzquotient zwischen 121 und 129). Im Vor- und Grundschulalter kann ein Testergebnis zusätzlich irreführend sein, da nicht auszuschließen ist, dass es sich um einen zeitlich begrenzten Entwicklungsvorsprung des Kindes handelt. Deshalb sollte bei Diagnosen im Vor- und Grundschulbereich auf den Begriff Hochbegabung verzichtet werden.
Dies sind wissenschaftliche Definitionen und Ansätze. Bei der pädagogischen Begleitung und Förderung, insbesondere junger Menschen, muss sorgfältig darauf geachtet werden, welche Konsequenzen aus solchen wissenschaftlichen Definitionen sinnvoller Weise gezogen werden können und welche nicht. Vor allem wäre es pädagogisch fahrlässig, Entscheidungen allein von Testwerten abhängig zu machen. Aus diesen Gründen ist es z.B. völlig unsinnig, die Zuweisung zu einem bestimmten Förderprogramm von einem in einem Test erreichten IQ-Wert abhängig zu machen.
3. Moderierende Faktoren
Sofern wir über Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen sprechen, kommt als wesentlicher Aspekt die Erkenntnis hinzu, dass die Fähigkeit eben noch kein Garant für Leistung ist – wer also mathematisch hoch begabt ist, muss nicht automatisch außergewöhnliche Leistungen im Bereich des Mathematikunterrichts erzielen. Gegenwärtige Modelle der Intelligenz berücksichtigen die Tatsache, dass die Umsetzung von Begabung in Leistung wesentlich von so genannten moderierenden Faktoren abhängig ist. Unterschieden werden zwei Gruppen: Eine umfasst die Einflüsse durch die Umgebung, in der ein Mensch lebt, z.B. bei einem Kind die Frage der sozialen Stellung der Familie, die Schule, existentielle Erfahrungen wie Krankheit usw. In der zweiten Gruppe finden sich die nicht – kognitiven Persönlichkeitsfaktoren. Solche Faktoren sind z.B. Motivation, Ängste, die Fähigkeit mit Prüfungsstress umzugehen, Arbeitshaltung, Arbeitsstrategien und anderes. Alle diese Faktoren bestimmen in erheblichem Ausmaß die Frage, inwieweit Begabung – also auch Hochbegabung – in Leistung umgesetzt werden kann. Hierdurch wird deutlich, dass eine intellektuelle Hochbegabung keinesfalls hinreichend ist, um erfolgreich in Schule oder Beruf zu sein. Diese Zusammenhänge werden sehr anschaulich im Münchner Hochbegabungsmodell dargestellt.
Für den schulischen und beruflichen Erfolg spielt neben der Begabung auch erworbenes Wissen und Erfahrung eine große Rolle. Je weiter ein junger Mensch in seiner schulischen und beruflichen Bildung aufsteigt, desto bedeutender wird der Faktor „Expertenwissen“ gegenüber dem Faktor „Begabung“ für die Frage, welchen Erfolg dieser Mensch erreichen kann. Es gilt, dass ein Expertenwissen nur aufgebaut werden kann, wenn die moderierenden Faktoren wie z.B. Fleiß oder Motivation gut ausgebildet sind.
4. Von der Diagnostik zur Entwicklung von Förderplänen
Um geeignete Fördermaßnahmen zu entwickeln, muss eine umfassende und differenzierte Diagnostik der verschiedenen Begabungs- und Persönlichkeitsbereiche durchgeführt werden. Im Idealfall misst die Begabungsdiagnostik ausschließlich das intellektuelle Potential und filtert die oben genannten moderierenden Faktoren, die die Leistungen in Schule oder Beruf beeinflussen, heraus. In der Realität ist dieser Idealfall allerdings nicht zu erreichen. Die Bestrebungen in der Testdiagnostik richten sich darauf, diesem Idealfall möglichst nahe zu kommen. Hierfür werden zum einen Bedingungen geschaffen, die möglichst viele äußere moderierende Faktoren ausschalten oder zumindest in ihrem Einflussgrad reduzieren (z.B. reizarme Umgebung, entspannte, motivierende Atmosphäre und anregendes Testmaterial). Zum anderen können die für den jeweiligen Einzelfall wichtigen in der Person liegenden moderierenden Faktoren mit eigenständigen Diagnoseinstrumenten erfasst und in der Ergebnisinterpretation berücksichtigt werden (z.B. standardisierte Verfahren, die Ängstlichkeit, Lern- und Arbeitshaltung oder Konzentrationsvermögen messen). Aus den Ergebnissen der umfangreichen Diagnostik und der zusätzlichen Informationen (z.B. schulische Leistungen, Interessen, Ressourcen, Persönlichkeitsfaktoren und Entwicklungsstand) wird anschließend der individuelle Förderplan entwickelt.
Bei der Entwicklung von Förderplänen ist es uns besonders wichtig, dass diese nicht defizitorientiert ausgerichtet sind. Es darf nicht nur darum gehen, an den Schwächen zu arbeiten. Das Ausbauen der Kompetenzen und Fördern der Stärken ist nicht nur ein gesellschaftliches Anliegen, sondern auch aus individualpsychologischer Sicht ein entscheidender Entwicklungsbaustein. Gerade zu Beginn einer Förderplanung ist sogar der Schwerpunkt auf die Förderung der Stärken zu legen, um die Leistungsmotivation und die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zu stabilisieren, bevor auch die Schwächen oder Defizite in den Fokus der Förderung gestellt werden können.